04.11.2022, 12:29 Uhr

Jagd im Naturschutzgebiet – muss das sein?

Weil Rothirsch und Reh sonst den Wald auffressen? Wegen der Wildschweinplage? Weil der Wolf fehlt?

Rothirsch im Wildgehege Gut Leidenhausen, Köln-Porz
Rothirsch im Wildgehege Gut Leidenhausen, Köln-Porz
© Justus Siebert
Auch diesen Herbst wieder wird überall gejagt, so auch im Naturschutzgebiet Wahner Heide. Warum eigentlich? Lassen wir mal die üblichen verdächtigen, persönlichen Motive beiseite: Weil es Spaß macht, Trophäe, Gemeinschaftsgefühl, an der frischen Luft, sportlicher Ehrgeiz, mal runterkommen in der Natur, mit dem gewissen Kick, selbst erlegt Wild essen. Keine Ahnung. Ich bin nicht auf dem Land groß geworden, wo man fast zwangsläufig in die Jagdgemeinschaft sozialisiert wird. Habe ich mir sagen lassen. Nicht, dass ich gar keine abenteuerliche Vorstellung mit der Jagd verbinden könnte, Vorstellungen, die teils aus meiner Kindheit stammen, Indianer auf Büffeljagd, Steinzeitmenschen, die so wenige sind, und die Mammuts so viele, dass es nichts ausmacht, einige davon zu jagen, ohne dass ein Schaden für die Natur daraus entsteht. Wobei – ohne Schaden? Warum sind die Mammuts eigentlich nicht mehr da? Lassen wir dieses Fass erstmal zu, vielleicht im nächsten Beitrag.

Und wir wollten ja die üblich verdächtigen, persönlichen Motive beiseite lassen, da müssten wir in den Kopf und die Sozialisation von Menschen reinschauen, dazu habe ich gerade kein ausreichendes Recherchematerial zur Hand. Schauen wir uns lieber die rational begründeten Argumente an, weshalb die Jagd auch in Naturschutzgebieten stattfindet. Das lässt sich vielleicht besser greifen.

Das grundsätzliche Argument lautet:

Die Jagd ist notwendig, um die Natur im Gleichgewicht zu halten.

Erläuternde Argumente dazu: Es fehlen die großen Beutegreifer, allen voran der Wolf, welcher erst spärlich zurück kehrt, aber noch keine große Rolle spielt. Darum müsse der Mensch (JägerIn) den Wolf ersetzen, welcher die Populationsdichte der großen Pflanzenfresser (Rothirsch, Reh) gering halten würde. Ohne den Wolf / JägerIn würden die genannten Pflanzenfresser sich so stark vermehren, dass sie den Wald auffressen würden. Indem sie die Jungbäume komplett auffressen und die großen Bäume (Buchen) anknabbern / schälen würden, sodass diese bleibenden Schaden davon tragen bzw. absterben würden.

So. Schon oft gehört und gelesen. Von Förstern und Jägern, Politikern, aber auch (einigen) Naturschützern. Klingt erstmal logisch und wurde letztendlich von den Medien meist so übernommen. Weil, das haben ja Leute gesagt, die sich damit auskennen. Und deshalb sollte man das diesen Profis überlassen.

Natur ist kompliziert

Ich bin kein Profi, habe weder Forstwirtschaft noch Biologie studiert. Ob das ein Nachteil ist (kein Fachwissen) oder doch ein Vorteil (keine Blockade) weiß ich nicht, ich glaube aber an die Evolutionstheorie, und damit daran, dass die Natur kompliziert ist. Und damit daran, dass die Formel, Mensch ersetzt Wolf, Natur damit wieder im Gleichgewicht, nicht aufgeht. Und ja, es gibt außer dem Wolf-Argument noch andere Faktoren, Stichwort Wildschweinplage, wegen Klimawandel (milde Winter), veränderte Landwirtschaft (Maisfelder), und noch einige andere Faktoren, die wir vielleicht noch gar nicht alle kennen.

Die Sache mit dem Wolf

Es gibt da noch ein paar weitere Fragen, die sich mir gestellt haben, aber zunächst nochmal zu dem Wolfs-Argument. Und bevor wir uns die Frage stellen, ob der/die JägerIn den Wolf / die Wölfin ersetzen kann, schauen wir uns doch mal an, was der Wolf denn eigentlich bewirkt. Ja, er jagt Hirsche und Rehe, aber reduziert er damit deren Bestände merklich? Die Naturwissenschaft sagt grundsätzlich: Nein. Es ist eher genau anders herum: Die Bestandsdichte von Beutetieren / Pflanzenfressern hängt maßgeblich von deren Futterangebot ab, und anderen Faktoren, die für ihr Wohlbefinden eine Rolle spielen. Wieviele Junghasen z.B. das Erwachsenenalter erreichen hängt weniger von der Anzahl der Füchse ab sondern vielmehr vom Wetter, die meisten überleben eine nasskalte Regenphase nicht. Ähnlich bei Wolf und Reh, auch hier die Kurve: je besser die Lebensbedingungen für Reh und Kitze, desto mehr überleben, desto mehr Beute für den Wolf, desto mehr Nachwuchs kann er selbst durchbringen. Und andersherum: Nimmt die Dichteder Beutetiere ab, kann auch der Wolf weniger Nachwuchs durchbringen, sein Bestand nimmt ab.

Ausflug in den Yellowstone-Nationalpark – Wolf und Wapiti

Ein oft zitiertes Beispiel für das Wechselspiel zwischen Wolf und Beutetieren, speziell Hirsch, ist das aus dem Yellowstone-Nationalpark, USA. Verkürzt erzählt stellt sich die Geschichte so dar: Nach der Einrichtung des Nationalparks 1872, mit der Idee die Natur zu bewahren, wurde der Wolf in den 1930er Jahren dort ausgerottet. Die Grundidee war gut, die getroffene Maßnahme, man ahnt es schon, nicht. Was passierte: Die Wapiti-Hirsche vermehrten sich, das wirkte sich auf die Vegetation aus, Weidenbestände wurden stark dezimiert, das ließ den Biber verschwinden, die Wapitis selbst fanden kaum mehr Futter, viele verhungerten. Erst 1995 wurde der Wolf wieder im Yellowstone eingeführt. Das hatte einige Jahre später bereits zählbare und sichtbare Effekte. Die Weiden, und die Biber, kamen zurück, die Anzahl der Wapitis hatte sich stark verringert.

So liest es sich bei Wikipedia und so wird es auch in Dokumentar-Filmen erzählt. Man kann an dieser Stelle einen Punkt machen und sagen: na also, ist doch das was wir (JägerInnen) die ganze Zeit sagen: der Wolf reguliert die Hirsch-Bestände, wo er fehlt gerät die Natur aus dem Gleichgewicht, und um das zu korrigieren müssen wir den Wolf, notgedrungen, ersetzen und die Hirsche abschießen. Wir können das zwar nicht so gut wie der Wolf, der noch feiner selektiert, die Schwachen zuerst holt, aber wenn wir gar nicht schießen würden, wäre es noch schlimmer, für die Natur.

Yellowstone – nochmal nachgehakt

Wir machen aber natürlich keinen Punkt an dieser Stelle sondern fragen nochmal nach: Ist das wirklich die ganze Geschichte vom Yellowstone? Ist sie natürlich nicht. Dass der Wolf eine wichtige Rolle für das gesamte Ökosystem spielt darf als gegeben angesehen werden. Aber es geht nicht nur um die Anzahl der Hirsche vor und nach seiner Wiederansiedlung. Es geht vielmehr um das veränderte Verhalten der Hirsche, die sich viel mehr im Gelände bewegen, kürzer an einem Standort aufhalten. Oder gar den Park verlassen, um dem Wolf auszuweichen, und dann außerhalb der Parkgrenzen Jägern vor die Flinten laufen. Und es kommt immer darauf an, was man sich anschaut, bzw. was man sich nicht anschaut.

Seit der Rückkehr der Wölfe hat es zeitgleich auch andere Ereignisse gegeben, vornehmlich Dürrephasen, Waldbrände, welche für die Populationsdichte der Hirsche eine größere Rolle gespielt haben dürften als der Wolf. Wenn man sich nur den Zusammenhang Wolf – Hirsch anschaut, die anderen Zusammenhänge aber nicht, dann entsteht halt ein unvollständiges Bild. Schaut man sich alle Zusammenhänge an, wobei man sich erstmal die Frage stellen muss, welche gibt es da überhaupt?, wird es schnell unübersichtlich.

Unbefriedigend.

Bringt uns aber zu der realen Erkenntnis, dass es eben kompliziert ist. Zu kompliziert, als dass man nur durch den Abschuss eines Hirsches dessen Riss durch den Wolf ersetzen kann. Denn ob der Wolf genau diesen Hirsch, zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, gerissen hätte, kann niemand sagen. Und die Zeit davor und danach, das sich belauern, ausweichen, verfolgen, über Wochen, eigentlich die ganze Zeit über, was einen viel größeren Effekt auf die Landschaft hat als ein Hirsch mehr oder weniger, das kann der/die JägerIn nicht nachbilden. Am Ende des Jagdtages geht er/sie dann doch nach Hause. Verlässt das Wahrnehmungsfeld von Hirsch & Co.

Zurück in die Wahner Heide – Jagd als Wolfs-Ersatz? Wegen der Eichen-Verjüngung?

Zurück vom Yellowstone in die Wahner Heide. Welche Erkenntnisse hat uns diese Reise gebracht? Zunächst nochmal die Feststellung: wir haben hier zwar einen Wolfsweg, was auf die historische Anwesenheit des Wolfes hindeutet, aber auch in Zukunft ist mit keiner Zuwanderung und Etablierung eines Wolfsrudels zu rechnen. Zu klein die Fläche (ein Wolfsrudel würde 4x die Fläche der Wahner Heide benötigen), um genügend Beutetiere zu ernähren. Und eine regelmäßige Wolfs-Durchwanderung ist auch nicht zu erwarten, zu groß die Siedlungs- und Straßendichte. Der Wolf fällt also dauerhaft als Faktor aus.

Heißt das jetzt, dass die Vegetation, wie im Yellowstone, ernsthaften Schaden nehmen würde, würde man die Jagd (Wolfs-Ersatz) abschaffen? Hier muss erstmal die Frage gestellt werden: Was wäre denn der Schaden? Das (forstwirtschaftliche) Stichwort hier lautet Waldverjüngung. Heißt, die Eichen- und Buchenbestände sollen sich verjüngen, indem aus den tausendfach abgeworfenen Eicheln und Bucheckern neue Bäume erwachsen. Was nicht funktionieren würde, wenn zu viele Rehe und Hirsche diese Jungbäume auffressen würden. Weshalb man sie auf ein „gesundes“ Maß reduzieren müsse.

Die Sache mit der Traubenkirsche

Dabei gibt es für die Verjüngung von Eiche und Buche noch ein ganz anderes Problem. Die Spätblühende Traubenkirsche. Einst aus Nordamerika vor Jahrzehnten von der damaligen Förster-Generation bei uns angepflanzt, als Experiment, in der Hoffnung auf eine gute Holzernte. Hat sich anders entwickelt als erwartet, bei uns wächst sie ganz anders als in Nordamerika, das Holz ist kaum zu verwerten, dafür richtet sie einen immensen ökologischen Schaden an. Sie verbreitet sich intensiv, verdrängt offensiv großflächig die heimische Vegetation, auch Eiche und Buche, ist kaum beizukommen. Schlägt man sie ab, bildet sie sofort neue Triebe nach. Leider bevorzugt der Rothirsch die jungen Eichen und Buchen gegenüber den Traubenkirschen. Offenbar weiß er nicht, dass er bei einer Bevorzugung der Traubenkirsche auch bei Förstern und Jägern ein Umdenken bewirken könnte, dass sie ihn vom Schädling zum Beschützer des Waldes einstufen könnten. Oder er (der Hirsch) glaubt schlicht nicht daran, dass dieses Umdenken, selbst wenn es in einzelnen Köpfen stattfindet, die Mauer einer von festen Traditionen geprägten Jägergemeinschaft durchbrechen und ihn von der Abschussliste bringen würde.

Ist weniger Wald wirklich so schlimm? Was ist überhaupt ein Wald?

Nochmal zum Schaden: Ist das wirklich der größtmögliche Schaden, wenn die Eichen- und Buchenwälder aus der Wahner Heide verschwinden und durch Traubenkirschen ersetzt würden? Zur Erinnerung. Wir sind in der Wahner Heide, und es ist genau dieser Offenlandtyp „Heide“, welcher dieses Naturschutzgebiet so wertvoll macht. Weil wir von diesem Offenland, das so heißt weil dort keine oder wenige Bäume stehen, nicht mehr viele haben. Dafür haben wir so viel Wald wie wohl nie zuvor. Das Absterben der Fichtenplantagen während der Dürresommer der letzten vier Jahre mit einberechnet. Aber das waren ja Plantagen und keine Naturwälder, werden aber irrtümlich oft gleichgesetzt. Aber zurück in die Wahner Heide. Die sich nicht nur durch die offene Heidelandschaft auszeichnet sondern durch ein eng verzahntes Netz verschiedener Biotoptypen. Dazu zählen auch Moore, Magerrasen, Sanddünen, Eichen-Hudewälder und Altbuchen-Bestände. Eichen und Buchen sollen, als heimische und standortgerechte Baumarten,  auch weiterhin ihren Platz in der Wahner Heide behalten, im Sinne von Biotop- und Artenvielfalt.

Man kann aber fragen, ob es (dichte) Wälder sein müssen oder ob vereinzelte Bäume oder Baumgruppen es nicht auch tun würden? Oder was wäre eigentlich natürlich? Die Heide, eine durch extensive menschliche Bewirtschaftung entstandene Kulturlandschaft, ist es offenbar nicht. Aber ist es der Wald? Und wie würde dieser Wald aussehen?

Auf der Suche nach der Urlandschaft. Ein Blick zurück in die Steinzeit

Heckrinder-Rückzüchtungsversuch des Auerochsen
Heckrinder-Rückzüchtungsversuch des Auerochsen
© Justus Siebert
Die ehrliche Antwort lautet: wir wissen es nicht. Naturschützer nicht. Aber Förster und Jäger auch nicht. Weil wir diese ohne menschenfreie nacheiszeitliche Urlandschaft noch nie gesehen haben. Weil der Mensch schon seit 40.000 Jahren in Mitteleuropa ansässig ist, die derzeitige Warmzeit (Holozän) aber erst vor 12.000 Jahren begann, als der Mensch seine Umwelt bereits geprägt hat. Wie stark wissen wir nicht. Er hat damals schon Rothirsche gejagt. Damals sicher nicht um Eichen und Buchen zu schützen sondern aus Jagdeifer, um Nahrung zu gewinnen. Aber vielleicht hat er auch die Eichen und Buchen bzw. deren Früchte geschätzt, und halb bewusst deren Ausbreitung gefördert. Die Bucheckern vielleicht mehr als die Eicheln, vielleicht hat er der Buche damit erst die (schnelle) Rückkehr nach Mitteleuropa ermöglicht. Ob wir mehr Jäger oder mehr Sammler waren, auch das wissen wir nicht. Wahrscheinlich je nachdem. Ob es mehr Früchte und Wurzeln zu sammeln oder Hirsche zu jagen gab. Oder Wildpferde, oder Auerochsen und Wisente, Rentiere, Elche, Wildesel, Wildschweine.

Es gibt nicht nur den Rothirsch. Auerochse, Mammut, Löwe & Co. waren auch mal da

Was uns von Wolf, Luchs und Löwe (auch den gab es vor wenigen tausend Jahren noch in Mitteleuropa) unterscheidet: wenn die Jagdbeute knapp wird, dann verhungern wir nicht so schnell oder sterben aus, wir stellen uns auf eine andere Ernährung um, als Allesfresser können wir das grundsätzlich, und zwar schneller als alle anderen Tiere. Und weil wir das können, damit überleben, uns auch auf ganz neue, sesshafte Lebensweisen einstellen können (Neolithische Revolution), können wir auch den Druck auf Rothirsch, Mammut und Wisent aufrecht erhalten, in einer für diese Tiere kritischen Phase, durch natürlichen Klimawandel hervorgerufen. Der Rothirsch hat es damals gut verkraftet, er ist heute noch sehr präsent. Der Wisent hat zwar bis heute überlebt, ist aber seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, von uns in ein ökologisches Nischendasein gedrängt worden, spielt als Faktor für unsere Landschaft seitdem keine Rolle mehr. Wie auch der ausgerottete Auerochse und das Wildpferd (Tarpan). Ohne uns Menschen würden diese Pflanzenfresser wahrscheinlich in Herden zu Hunderten von Tieren durch unsere rheinische Landschaft ziehen – und diese prägen. Indem sie nicht nur Gräser sondern auch junge Eichen und Buchen fressen würden.

Heide gleich Kulturlandschaft, Wald gleich Naturlandschaft – ein Fragezeichen

Glanrinder unter Eichen auf Geisterbusch-Hudeweide, Wahner Heide. Würde so unsere Urlandschaft aussehen?
Glanrinder unter Eichen auf Geisterbusch-Hudeweide, Wahner Heide. Würde so unsere Urlandschaft aussehen?
© Justus Siebert
Kurioserweise kommt die als Kulturlandschaft geltende Heide der mystischen Urlandschaft wahrscheinlich näher als der gerade in Deutschland als Naturlandschaft mythisierte Wald. Die Heide wurde extensiv bewirtschaftet, hier durften die domestizierten Nachfahren der großen wilden Pflanzenfresser eine Rolle spielen (Rind / Auerochse, Schwein / Wildschein, Schaf / Mufflon, Ziege / Steinbock), wenn auch gegängelt und in anderer Artenzusammensetzung. Im Wald dagegen hat gerade mal der Rothirsch eine bescheidene Rolle spielen dürfen. Zudem hat bei uns im Rheinland mit dem Auftreten der Preußen vor rund 200 Jahren eine neue Nutzung der Wälder Einzug gehalten. Aus den Hudewäldern wurden Holzplantagen, die Hudetiere verschwanden, Kiefern und Fichten (Preußenbäume) erschienen, eng gepflanzt, so wie wir heute den Wald kennen, und für Natur halten.

Wir wissen nicht genau, wie dieses Zusammenspiel zwischen Vegetation und wilden Pflanzenfressern aussehen würde, und was das mit unserer Landschaft machen würde, die Heidelandschaft gibt uns nur eine Ahnung davon. Aber wir wissen, dass es all diese Tiere hier gegeben hat und zum Teil noch gibt, und dass zumindest auch die Eiche immer da war.

Und nun die 12.000 EURO Frage:

Wenn also Eichen, Buchen, Rothirsche, Auerochsen, Wisente, Wildpferde zeitgleich existiert haben und eingespielt waren, das also unser natürliches Artenspektrum war: Warum müssen wir dann die eine (übriggebliebene) Art, den Rothirsch, „managen“, also künstlich klein halten, wenn wir das Ziel verfolgen, eine möglichst natürliche Landschaft zu erhalten? Was das natürliche Ziel in einem Naturschutzgebiet ist. Würden Eiche und Buche komplett verschwinden?

Ich wage die Behauptung: Nein. Denn es würde immer auch irgendwo ein Brombeerstrauch oder Weißdorn stehen, in dessen Schutz sich eine Eiche entwickeln kann. Mehr als eine, oder zwei, auf einem Fußballfeld muss es ja auch gar nicht sein. Das ist zwar nicht der Eichenwald wie wir ihn uns vorstellen, schon weil gar kein Wald als eher Savanne, Steppe, oder was? Haben wir für die Urlandschaft vielleicht gar keinen Namen, und tun uns deshalb damit so schwer? Sind die Tiere des Waldes vielleicht gar keine solchen sondern Tiere des / der ???

Tiere des Waldes und der Heide

Vom Rothirsch wissen wir: er ist kein Tier des Waldes, der Platzhirsch grast lieber auf der offenen Fläche, wenn wir ihm eine solche lassen würden. Aus seiner Perspektive ist es deshalb konsequent, wenn er Bäume anknabbert, damit mehr Freifläche entsteht, auf der er grasen kann. Findet auch die Heidelerche gut. Die gar nicht weiß, dass sie so heißt, sie sieht nur offene Flächen, wo sie zwischen Ginsterbusch und Heidekraut ihr Nest anlegen kann. Weshalb sie zu den Bodenbrütern gezählt wird. Was sie auch nicht weiß, nur: wo zu viele Eichen stehen, und sich keine Krautschicht auf dem Boden als Versteck bilden kann, da fliegt sie gleich wieder weg, da können ja Amsel oder wer auch immer ihr Glück versuchen, ihr Sehnsuchtsort sieht anders aus. Ist eher da, wo Rothirsch, und die anderen, Auerochsen, Kühe, egal, wo die rumlaufen, und tun, was sie halt tun, grasen und Bäume verhindern. Die Zauneidechse sieht das übrigens auch so. Und die Kreuzkröte. Die brauchen keine Bäume, die brauchen Sonnenlicht bis auf den Boden. Aber die werden ja nicht gefragt.
Apropros, Zwischenfrage, von wem stammt folgendes Zitat:

Hängt die Grünen, solange es noch Bäume gibt.

Oder waren statt der Grünen die Förster gemeint? Stammt die Forderung vom Rothirsch? Von Naturschützern? Von Luisa Neubauer? Von der Heidelerche? Von Peter Wohlleben?

Auflösung: das Zitat stammt von Mehmet Scholl. Eine ernsthafte politische Forderung können wir deshalb ausschließen. Zum Glück. Dennoch, nochmal der Grundgedanke (danke Mehmet): Brauchen wir Bäume? Und wenn ja wie viele? Oder doch mehr Hirsche? Wegen der Heidelerche?

Viele Fragen, unbefriedigende Antworten und arme Schweine

Es tut mir leid, es sind viele Fragen gestellt, und die wenigsten davon eindeutig beantwortet worden. Das liegt daran, dass es auf die meisten dieser Fragen keine eindeutigen Antworten gibt. Wenn man ehrlich ist. Weder von Naturschützern noch von Förstern oder Jägern. Von Politikern sowieso nicht. Die armen Schweine. Die müssen sich die Argumente der einen und der anderen anhören. Und dann Entscheidungen treffen. Oder verhindern. Und sich dann von Experten, Wählern, LastGeneration, anhören lassen müssen, dass sie komplett falsch gelegen haben. Harter Job.

Wildschweine wühlen, und das ist gut so!
Wildschweine wühlen, und das ist gut so!
© Justus Siebert
Außer diesen armen Schweinen gibt es auch noch die armen Wildschweine, die anfangs erwähnt, aber im weiteren Verlauf nicht weiter thematisiert wurden, wofür ich mich bei den Wildschweinen entschuldigen möchte, zumindest bei denen, welche die dieswöchige Treibjagd in der Wahner Heide überlebt haben. Ihr seid die eigentlichen Urrheinländer, ihr wart immer schon da, und habt immer schon gewühlt wo es nötig war, im Wald, in der Heide, Rohboden, das ist es was ihr hinterließet, super! Sagen auch die Biologen.

Aber ihr wart auch im Vorgarten, im Maisfeld. Das kam nicht so gut an. Und dann ist in Polen die Afrikanische Schweinpest ausgebrochen. Die ja auch in die Wahner Heide überschwappen kann. Über Wildschweine die von Polen nach Köln laufen (eher unwahrscheinlich). Oder Jäger die von Polen nach Köln fahren (wahrscheinlicher). So oder so, Plan A der Forstwirtschaft: möglichst viele Wildschweine abschießen. Vorsorglich. Warum nochmal? Damit sich die Schweinepest nicht auf Schweinemastbetriebe ausbreitet. Also die industrielle Schweinezucht. Damit wir billiges Schweinefleisch für alle haben, auch die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten. Klimaschädlich, volkswirtschaftlich schädlich, ethisch unerträglich. Und die wilden Verwandten werden auch noch mit reingezogen. Mitgefangen, mitgehangen / geschossen.

Also sorry Wildschwein, du hast mehr Lobby-Einsatz verdient, zu wenig, zu spät, ich weiß, aber wenigstens ausgerottet bist du noch nicht, vielleicht findest du noch ein paar weitere Lobbyisten, außer den Naturschützern, die sich für dich stark machen. Vielleicht zur nächsten Jagdsaison.

Wenigstens die Ausgangsfrage: Jagd im Naturschutzgebiet – muss das sein? – möchte ich eindeutig beantworten, und zwar mit: Nein!

Begründung: es gibt zu viele Zweifel an dem Argument, dass durch eine Nichtbejagung heimischer Wildtiere das heimische Waldökosystem gefährdet wird. Darüber hinaus gibt es Zweifel daran, dass das Waldökosystem das ursprüngliche Ökosystem ist, es könnte auch ein Heide-Ökosystem oder ein ???-Ökosystem sein, bis wir das geklärt haben, plädiere ich für ein Aussetzen der Jagd, weil zu befürchten steht, dass durch dieselbe mehr Schaden entsteht für Klima, Volkswirtschaft, Ökosystem und Ethik (Tierwohl) als gewonnen wird.

Als ehrliches Fazit bleibt: wir wissen es alle nicht, was passieren würde, wenn wir einfach mal nicht regulierend in die Natur eingreifen würden, durch Jagd oder Aufforstung, wir haben es einfach noch nicht konsequent genug versucht. Die Wahner Heide ist einer der Orte, wo dies denkbar ist, man muss nur den Mut dazu aufbringen, deshalb plädiere ich für:

Mehr Wild wagen!

Und die Eiche gehört auch dazu. Und wird nicht verschwinden. Und vielleicht gehört auch der Wisent bald dazu, zur Wahner Heide. Hört sich im ersten Moment bekloppt an. Im zweiten schon nicht mehr. Mal schauen ob es alsbald mehr zum Thema Wisent gibt, aus dem Rothaargebirge, aus gegebenem Anlass.

Zum Nachlesen und Vertiefen

Zum Thema Wildnis in Europa empfehle ich das Buch des niederländischen Biologen und Naturschützers Frans Vera. Die komplexen Zusammenhänge zwischen großen Pflanzenfressern und  der Vegetation bzw. einer natürlichen Landschaft werden hier sehr anschaulich geschildert. Unter anderem, welche Rolle Eichelhäher und Weißdorn für die Eichenverjüngung spielen. Am liebsten würde ich dieses Buch jedem Förster um Geburtstag schenken. Kennen nur keinen so persönlich. Ich habe das Buch vor Jahren in Oostvaardersplassen, Holland, gekauft, gab es damals nur auf holländisch und englisch. Und evtl. muss man nach wie vor da hin fahren um an das Buch zu kommen, ist aber wegen der Natureindrücke die Reise wert.

Frans Vera & Frans Buissink, Wilderness in Europe, What really goes on between the trees and the beasts, Tirion Natuur


Ein Standardwerk zur Megaherbivoren-Theorie (Megaherbivoren = große Pflanzenfresser) stammt von Margret Bunzel-Drüke, die Grundzüge dieser Theorie sind in diesem PDF zusammen gefasst. Auf der Website der ABU gibt es Beispiele für die praktische Umsetzung der Theorie im Kreis Soest.


Wer sich speziell für die Tierwelt der letzten Eis- und Warmzeit interessiert, auch Beutegreifer, also jene, die zum Teil schon ausgestorben sind bzw. ausgerottet wurden, dem empfehle ich das Buch Lebendige Eiszeit – Klima und Tierwelt im Wandel, von Professor Wighart v. Koenigswald. Gibt ein beeindruckendes Bild davon ab, welche und wie viele großen Tiere es einst bei uns gegeben hat, und heute noch geben könnte. Unter anderem den wenig bekannten Europäischen Waldelefanten, den Warmzeitvertreter als Gegenstück zum prominenten Eiszeit-Vertreter Mammut.

Wighart v. Koenigswald, Lebendige Eiszeit, Klima und Tierwelt im Wandel, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt

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"Wald und Huftiere, Artenschutz und Karnivore - Zum vermeintlichen "Wald-Wild-Konflikt" und der Idee, wilde Tiere zu managen", ein Hintergrund des BUND NRW von 2021, trägt aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zusammen und kommt auf dieser Grundlage zu der Analyse, dass Jagd naturschutzwidrig ist.